... im Nachgang: „Ich und Kaminski“ (Kinostart: 17. September 2015)

Regisseur Wolfgang Becker und Schauspieler Daniel Brühl arbeiten nach „Good Bye Lenin!“ erstmalig wieder zusammen. Was ich davon halte, steht HIER (von mir stammt das Semi-Pro).

(Plakat: © 2015 X Verleih)

Heimkino-Tipp: „Wem gehört die Stadt – Bürger in Bewegung“ (2015)

Demonstrieren geh‘n

Wohnraum in deutschen Städten ist knapp, Immobilien sind inzwischen zu einer lohnenswerten Geldanlage geworden. Die Folge sind Mieten jenseits von Gut und Böse sowie so manche Bauprojekte, über dessen Nutzen man vortrefflich streiten kann.

Genau dies dokumentiert Anna Ditges in ihrem Film „Wem gehört die Stadt – Bürger in Bewegung“. Es ist ein unkommentiertes filmisches Tagebuch der Ereignisse in Köln-Ehrenfeld, einem Stadtteil, der nach den Wünschen eines Großinvestors eine neue Shopping Mall erhalten soll. Die wahrscheinliche Folge: Viele kleine Läden müssen schließen, Szenekultur verschwindet, riesige Parkhäuser und verglaste Einkaufsklötzer entstehen. Die Bewohner sind davon wenig begeistert und gehen auf die Barrikaden. Allerdings nicht, um zur Revolution anzustiften, sondern um mit alternativen Vorschlägen die Gestaltung ihres Viertels selbst in die Hand nehmen zu können.

Das, was in Köln-Ehrenfeld geschieht, kann problemlos auf viele andere Städte übertragen werden. „Wem gehört die Stadt“ ist somit von vornherein weit mehr als ein Klagelied für jenen Ort, aus dem auch die Regisseurin selbst stammt. Es ist interessant zu sehen, in welch vielfältiger Weise ihre Nachbarn, egal ob jung oder alt, die Möglichkeit der Bürgerbeteiligung wahrnehmen und konstruktiv versuchen, den Invasionsplänen von Außen entgegenzuwirken.

Und doch leistet sich auch diese Dokumentation einen Lapsus, der für mich stets die Lust am Weiterschauen torpediert: Es gibt keine Infos darüber, wer die interviewten Menschen sind, welche Funktionen sie haben, welchen Berufen sie nachgehen und was dafür spricht, ihren Urteilen und Meinungen zu glauben. Natürlich wird im weiteren Verlauf zunehmend deutlich, auf welcher Seite die Porträtierten stehen. Doch nur weil sie entweder in einem Atelier stehen oder Anzug tragend und in einem Büro sitzend befragt werden, gibt dies dem Zuschauer noch keine ausreichende Information darüber, ob diese Personen glaubhaft sind und thematisch versiert genug, um den Sachverhalt zu erläutern.

So ist man von Anfang an der Persönlichkeit, dem Auftreten, der optischen Erscheinung der Personen ‚ausgeliefert‘, was der Manipulationsmöglichkeit seitens der Filmemacherin unendliche Möglichkeiten eröffnet. Bitte nicht missverstehen: Ich unterstelle Regisseurin Anna Ditges nicht, einseitig und parteiisch zu sein. Doch leider vergessen einige Zuschauer hin und wieder gern, dass Film ein Medium ist, das mehr noch als das gesprochene Wort zu falschen Rückschlüssen führen kann. Das Fehlen von zeitlicher Einordnung verstärkt – zumindest bei mir – den Verdacht, dass hier sehr leicht Szenen der Dramatik wegen aneinander gereiht wurden, die möglicherweise gar nicht in Zusammenhang stehen.

Es gab und gibt sogenannte Mockumentaries, also fiktionale Filme, die sich als Dokumentationen tarnen, in großer Anzahl. Ein in er Tat interessantes Genre, das jedoch sehr schnell missbraucht werden kann. Oder anders formuliert: Wer sicher sein will, dass seine echte Dokumentation auch als solche wahrgenommen wird, sollte bestimmte journalistische Standards beachten. „Wem gehört die Stadt“ macht dies leider nicht.

Der Film erscheint nur auf DVD und in der Originalsprachfassung (Deutsch). Optionale Untertitel sind in deutsch und französisch vorhanden. Als Extras enthält die Disc diverse Interviews sowie Trailer. „Wem gehört die Stadt – Bürger in Bewegung“ erscheint bei filmkinotext/good!movies/SchwarzWeiss Filmverleih und ist seit 11. September 2015 erhältlich. (Packshot: filmkinotext)

Heimkino-Tipp: „Rendezvous in Belgrad“ (2011)

Lost in Translation

Huch, da ist aber jemand in seine Stadt verliebt: Bojan Vuletić präsentiert mit „Rendezvous in Belgrad“ einen romantisch-satirischen Episodenstreifen, der Gäste und Bewohner der serbischen Hauptstadt aufeinandertreffen lässt – und seltsame Eigenheiten auf beiden Seiten zutage fördert. Zwischendrin gibt es immer wieder kurze Gesangsdarbietungen einzelner Berufsgruppen, die sowohl das Geschehen der folgenden Kapitel, als auch die „Errungenschaften“ des Landes preisen. Klingt seltsam? Ist es auch!

Die Idee hinter dem ungewöhnlichen Filmprojekt, das ironischerweise unter anderem im Thüringischen Erfurt gedreht wurde, ist an sich sehr kreativ: Wie nehmen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Belgrad reisen, diese Stadt und die dort Lebenden wahr? Welche – neben den sprachlichen – Hürden gilt es für beide Seiten zu überwinden? Was geschieht, wenn sie ins Gespräch kommen und sich näher kennenlernen? Verpackt in vier Kurzgeschichten, schickt Regisseur und Co-Autor Vuletić eine Musikerin, einen Geschäftsmann, einen Koch sowie einen untreuen Bräutigam mitten ins Getümmel, um ihnen seine Heimat näherzubringen. Zu den bekanntesten Gesichtern unter den Darstellern zählen dabei sicherlich Julie Gayet („Mein bester Freund“) und Baki Davrak („Auf der anderen Seite“).

Was per se nach einer interessanten und unterhaltsamen Komödie klingt, entpuppt sich als zwar abwechslungsreiche aber ansonsten wenig überraschende Klischee-Ansammlung, die ihren chauvinistischen Charakter (Patriotismus und Männerphantasie) nicht leugnen kann. Denn in allen vier Episoden sind es die Ausländer, die sich unmöglich, herablassend, verletzend und/oder egoistisch verhalten. Ihnen gegenüber stehen Serben, die von ihnen betrogen, belogen und ausgenutzt werden. Befremdlich, dass den „Opfern“ dies alles nichts auszumachen scheint. Stattdessen akzeptieren sie für ein One-Night-Stand die Kapriolen eines psychisch gestörten Stars (Kapitel eins) oder geben sich trinkfest, um sich anschließend abschleppen zu lassen (Kapitel drei). Erkenntnis: die Belgrader sind offenbar liebeshungrig und leicht rumzukriegen.

Die witzig gemeinten Kapitelübergänge leisten ihr Übriges: Nach der Präsentation eines Volksliedes erklären die Chorteilnehmer, wie toll sich Serbien entwickelt hat und es daher eigentlich überfällig wäre, das Land in die EU aufzunehmen (momentan ist Serbien „Beitrittskandidat“). Viele Grüße an die PR-Abteilung der Regierung!

So sehr ich diesen Film aufgrund seiner Prämisse auch loben möchte, überwiegt doch die Verärgerung über die eindimensionale Charakterzeichnung. Was amüsant sein soll, erweist sich als vorurteilsbehafteter Blick auf Belgrads Bevölkerung und seine Gäste. Und nein, Ironie geht anders.

Der Film erscheint nur auf DVD und in der Originalsprachfassung (Serbisch/Kroatisch/Englisch). Optionale Untertitel sind in deutsch und englisch vorhanden. Als Extras enthält die Disc diverse Trailer. „Rendezvous in Belgrad“ erscheint bei filmkinotext/good!movies/SchwarzWeiss Filmverleih und ist seit 17. Juli 2015 erhältlich. (Packshot: filmkinotext)

Heimkino-Tipp: „Als wir träumten“ (2015)

Made in the GDR

Dass ‚der neue Dresen‘ ein wenig anders werden würde, ließ schon das Plakat zum Film erahnen: „Als wir träu-mten“ steht da in großen Lettern geschrieben, inklusive einer wirklich merkwürdigen Worttrennung. Rebellion? Unwissen? T9-Eingabe? Was auch immer den kreativen Kopf hinter dem Poster zu dieser Schreibweise bewegt haben mag, für das neue Werk des aus Gera stammenden Regisseurs Andreas Dresen passt es wie die Faust aufs Auge.

Womit bereits die von den Protagonisten des Films bevorzugte Art einer Unterhaltung benannt wäre: Gewalt und Aggressivität spielen eine überraschend große Rolle in „Als wir träumten“, der Adaption von Clemens Meyers gleichnamigen Erfolgsroman. Zwar hatten sich Dresens frühere Arbeiten ebenso nie vor körperlicher Härte gescheut (siehe „Die Polizistin“ oder „Willenbrock“), die permanente Auf-die-Fresse-Mentalität der jungen Akteure in seinem jüngsten Film überrascht dann aber doch. Es fällt lange Zeit schwer, diesen ständig unter Strom stehenden Jungs irgendetwas Positives abzugewinnen.

Dass sie im Inneren ihres Herzens gar nicht so böse sind, deutet Dresen ungewohnt halbherzig an: Statt 100 klauen sie einer alten Dame nur 50 Mark, einer einsamen Hausfrau tätschelt Dani (Merlin Rose) mal eben die Brüste, seine Mutter umarmt er an anderer Stelle kurz, nachdem ihn die Polizei mal wieder an der Haustür abgeliefert hat. Im krassen Gegensatz zu dieser holpernden Zärtlichkeit stehen unzählige Saufgelage, geklaute Autos und Sachbeschädigungen aller Art, die das Bild einer irgendwie verlorenen, desillusionierten und überforderten Generation malen sollen, in ihrer Masse aber einfach nur nerven. Denn wer so exzessiv lebt, ist in seinen wenigen ruhigen Momenten charakterlich nicht unbedingt glaubhaft.

Zwar wirken die jungen Darsteller unverbraucht und hungrig, doch gelingt es ihnen kaum, den Figuren Einzigartigkeit zu verleihen – zu ähnlich sind ihre Süchte (Alkohol, Tabak, Drogen, Ungehorsam) und Träume (die Gründung eines Techno-Klubs), zu undifferenziert die Versuche, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Kommt dann noch das ausgelutschte Klischee vom ‚gemeinsamen Neuanfang mit der Liebsten‘ hinzu, ist’s mit meiner Geduld endgültig vorbei. Überhaupt bleibt die Frage, weshalb unser Held Dani ausgerechnet der/dem schönen Sternchen (Ruby O. Fee) verfällt? Denn wer die Dauerfreundin eines Nazicliquen-Chefs ist, kann so clever nicht sein. Eine Antwort bleibt das Drehbuch vom sonst so versiert arbeitenden Wolfgang Kohlhaase leider schuldig.

An optischer Authentizität mangelt es „Als wir träumten“, dessen Handlung in der Nachwendezeit angesiedelt ist, indes nicht: Die Ausstattung ist bis zum Topflappen hin makellos, die Straßen und Orte haben den alten, zerfallenen DDR-Mief noch nicht abgeschüttelt. Mittendrin bahnt sich die elektronische Musik ihren Weg durch die Körper der Jugendlichen, die in zerfallenen Gebäuden ihr Glück im Endlostanzen suchen. Besser hätte man das Nachtleben Ostberlins Anfang der 1990er-Jahre nicht einfangen können. Wenn nur der Rest des Films ebenso nah an der Wirklichkeit gewesen wäre, wie bei Dresen sonst üblich (siehe HIER)!

Andererseits, das Plakat/Cover hatte mich ja gewarnt: irgendetwas stimmt hier nicht.

Die DVD enthält den Film in deutscher Originalsprachfassung mit optionalen deutschen und englischen Untertiteln sowie eine Audiodeskription für Sehbehinderte. Als Extras finden sich ein Making of, entfernte Szenen, Trailer sowie ein Audiokommentar von Andreas Dresen und Wolfgang Kohlhaase auf den Discs. Eine umfangreiche Trailersammlung ergänzt die gelungene Umsetzung. „Als wir träumten“ erscheint bei Pandora Film Home und ist ab 19. September 2015 erhältlich. (Packshot + stills: © Rommel Film / Pandora Film / Peter Hartwig)

Heimkino-Tipp: „Nachtgestalten“ (1998) / „Halbe Treppe“ (2002)

Damals war’s …
Kleines Cineasten-Quiz: Welchen Schauspieler hat Regisseur Andreas Dresen in vielen seiner Filme immer wieder auftreten lassen? Heute ist er im Team Münster des „Tatort“ unterwegs und einer der beliebtesten Darsteller der Republik …

Ja, Axel Prahl und Andreas Dresen gehören irgendwie zusammen: Ob als Musiker auf der Bühne (sie sind immer mal wieder gemeinsam auf Tour) oder als perfektes Duo beim Filmemachen. Bevor Prahl spätestens mit „Halbe Treppe“ und „Willenbrock“ (2005) einem breiten Publikum bekannt wurde, besetzte ihn Dresen zweimal als Polizist. Eine Rolle, die Prahl wie kaum ein anderer perfektionierte, sei es dank seines ruppigen, aber stets respektvollen Auftretens gegenüber anderen Figuren oder seiner durchsetzungsstarken Stimme, die jeden Gesprächspartner sofort stramm stehen ließ. Nachdem vor einigen Jahren Dresens hervorragender „Die Polizistin“ (siehe HIER) den Weg auf DVD fand, kommt mit „Nachtgestalten“ nun endlich eines seiner lang vergriffenen Frühwerke in einer ‚neu gemasterten‘ Veröffentlichung wieder auf den Markt. Mit im Schlepptau: „Halbe Treppe“, der ebenfalls qualitativ ein wenig aufgefrischt wurde.

Beide Filme zählen mit zum Besten, was das deutsche Kino in den vergangenen 15 Jahren zu bieten hatte. Ungekünstelt, realitätsnah und teilweise improvisiert, zeigen sie einen talentierten Filmemacher auf dem Weg zu seinem eigenen, markanten Stil. Zurückgenommen und doch punktgenau inszeniert, wirken die Werke spontan und wie aus dem Leben gegriffen, lassen ihre Darsteller strahlen und ausprobieren, und sind doch aus einem Guss. Während „Nachtgestalten“ der Ende der 1990er-Jahre beliebten Form der Episodenerzählung folgt und verschiedene Personen durch eine Berliner Nacht begleitet, konzentriert sich „Halbe Treppe“ auf zwei Paare, die mit einem (un-)gewollten „Bäumchen-wechsle-dich“-Spiel wieder etwas Feuer in ihre festgefahrenen Beziehungen bringen wollen.

Schon hier wird Dresens Talent deutlich, alltägliche Dramen mit sanftem Humor zu würzen, die Probleme ‚des kleinen Mannes/der kleinen Frau‘ ohne Wertung einzufangen und mit leiser Melancholie dabei zuzusehen, wie sie versuchen, anschließend wieder zum aufrechten Gang zurückzukehren. Ein Satz, den ich so ebenso seinem britischen Kollegen Ken Loach zuschreiben könnte. Aber ist es nicht schön, ein solches Talent auch im eigenen Land zu haben?

„Nachtgestalten“: Die DVD bietet den Film in original deutscher Sprachfassung mit optionalen englischen Untertiteln. Als Extras sind ein Audiokommentar von Andreas Dresen sowie ein Making of und Trailer beigefügt.

„Halbe Treppe“: Die DVD bietet den Film in original deutscher Sprachfassung mit optionalen englischen, französischen und spanischen Untertiteln. Auch eine Audiodeskription für Sehbehinderte und deutsche Untertitel für Gehörlose sind vorhanden. Als Extras sind ein Audiokommentar von Andreas Dresen, zwei Dokumentationen, gelöschte Szenen sowie Trailer beigefügt.

„Nachtgestalten“ und „Halbe Treppe“ erscheinen bei Pandora Film Home und sind seit 19. September 2015 wieder erhältlich. (Packshots: © Rommel Film / Pandora Film / Foto: Peter Hartwig)

Heimkino-Tipp: „Love Exposure“ (2008)

Maximum Overdrive

Victor Fleming („Vom Winde verweht“, 1939), Michael Cimino („Heaven’s Gate“, 1980), Sergio Leone („Es war einmal in Amerika“, 1984), Wim Wenders („Bis ans Ende der Welt“, 1991), Kevin Costner („Der mit dem Wolf tanzt“, 1991) oder Olivier Assayas („Carlos – Der Schakal“, 2010): Die Liste jener Regisseure, die Filme mit einer Laufzeit jenseits der 215 Minuten-Marke (sprich: über 3,5 Stunden) vorweisen können, ließe sich beliebig fortführen. Allerdings sind solche Mammutwerke aus rein wirtschaftlichen Gründen (Kinos könnten in dieser Zeit an zwei Aufführungen von 120-Minuten-Filmen besser verdienen) leider eine Seltenheit geworden. Und das, obwohl allein die aufgeführten Beispiele, zu denen es größtenteils ebenso kürzere Versionen gibt, zeigen, dass künstlerisch betrachtet ‚mehr‘ oftmals auch ‚besser‘ bedeutet.

Im Jahr 2008 reihte sich der japanische Filmemacher S(h)ion Sono („Strange Circus“, „Suicide Circle“) in diesen exklusiven Klub ein und legte mit „Love Exposure“ ein 236-minütiges Potpourri sondergleichen vor. Was es ist, Komödie, Drama, Liebesfilm, Psychothriller oder Sexklamotte, lässt sich schwer beurteilen. Vielleicht, weil „Love Exposure“ schlicht alles auf einmal ist. Ein Fakt, den Sono zu nutzen weiß. Denn diese Unvorhersehbarkeit, dieser ständige Genre- und Stilwechsel lassen beim Schauen die einschüchternde Laufzeit schnell vergessen.

Im Zentrum der Handlung steht der Teenager Yu (Takahiro Nishijima), dessen Vater sich nach dem Tod seiner Frau Gott zuwendet und zum Priester wird. Im Laufe der Jahre kommt der Kirchenmann zu der Überzeugung, dass jeder ständig und auch ohne aktives Zutun im Alltag sündige. Leidtragender ist Yu, der fortan täglich beichten soll, selbst wenn nichts vorgefallen ist. Um dieser Psychohölle zu entgehen, beginnt Yu tatsächlich, Sünden zu begehen – indem er sich zum „Perversen“ erklärt und „Upskirt“-Fotograf wird. Mit ausgefeilten Techniken und beachtenswerter Akrobatik knipst er nun unzählige Bilder unter Röcken von Frauen, stets auf der Suche nach „der Besonderen“.

Die begegnet ihm in Gestalt von Yoko (Hikari Mitsushima). Dank einer unglücklichen Verkettung von Zufällen lernt sie ihn jedoch zunächst nur als Frau namens Sasori kennen – und verliebt sich in sie. Als ihre Stiefmutter kurz darauf mit seinem Vater zusammenzieht, werden Yu und Yoko Geschwister. Während sie ihn ignoriert, hat er nun jeden Tag mit Erektionen zu kämpfen, die sich beim Anblick von Yoko ohne Vorwarnung einstellen. Doch dies ist noch nicht einmal die halbe Geschichte, die den beiden noch bevorsteht.

Eines macht Regisseur Sono schon zu Beginn klar: Berührungsängste, Hemmungen oder moralische Grenzen kennt er nicht. So mixt er Dramatisches mit Slapstick, Missbrauch mit sexueller Anzüglichkeit, Gewalt mit Überspitzungen. Ebenso sprunghaft wie der inhaltliche Ton ist die Verwendung filmischer Mittel, klassische Inszenierung wechselt sich ab mit nervöser Handkamera, Schnittmassaker folgen auf minutenlange Standeinstellungen. Kurz: Eine unglaubliche Herausforderung für sein Publikum.

Akzeptiert man diese Inszenierungsformen, eröffnet sich dem Zuschauer eine Geschichte, die von Liebe geprägt ist – im positiven wie negativen Sinne. „Love Exposure“ präsentiert die extremen Auswüchse, die Liebe bewirken kann. Sei es die Hingabe zu Gott, zur eigenen Familie, zu einem anderen Menschen oder zur Kunst. Ein bemerkenswerter Rundumschlag, der jedoch nicht frei von Mängeln ist.

So irritiert wie oben bereits erwähnt der oft spontane Wechsel zwischen Spaß und Ernsthaftigkeit, Spiel und Gewalt. Zudem gelingt es Sono nicht, die Sogwirkung und das Tempo der ersten drei Stunden (was klingt das absurd!) bis zum Ende durchzuhalten. Besonders in den finalen Kapiteln agieren die Figuren zunehmend hysterischer und machen es schwer, ihnen in ihren Handlungen noch folgen zu können. Der in meinen Augen größte Schwachpunkt jedoch, so er denn von Sono nicht beabsichtigt war, ist die fehlende Distanz zu seinen angesprochenen Themen: Er macht sein Publikum mit expliziten Nahaufnahmen weiblicher Reize und durchweg sexualisierten Einstellungen quasi zum Voyeur und Mittäter der gezeigten „Sünden“. Aussagen über Aufrichtigkeit und Würde folgen erigierte Penisse und Höschenfotos, überhaupt spielt die Provokation mit anzüglichen Posen und Szenen eine große Rolle. Eine zu große, da sie dem eigentlichen Anliegen des Films, die Flucht vor der reizüberfluteten Gesellschaft mittels Religion darzustellen, zuwiderläuft.

So bleibt am Ende ein nicht ganz – Achtung, Wortspiel! – befriedigendes Filmerlebnis, trotz vierstündiger cineastischer Achterbahnfahrt. Wer sich jedoch darauf einlässt, sollte auf alles gefasst sein.

Nach diversen DVD-Auflagen erscheint „Love Exposure“ nun erstmals auf Blu-ray. Neben gelöschten Szenen und Trailern ist im Bonusmaterial noch ein ca. 30minütiges Making of zu finden, das jedoch vornehmlich aus Filmszenen besteht. Der Film selbst liegt nur in original japanischer Sprachfassung mit deutschen Untertiteln vor. Darüber hinaus ist dieser Edition ein Booklet beigelegt. „Love Exposure“ erscheint bei Rapid Eye Movies/Al!ve AG und seit 21. August 2015 erhältlich. (Packshot + stills: © Rapid Eye Movies)

Heimkino-Tipp: „In meinem Kopf ein Universum“ (2013)

A Beautiful Mind

Für seinen Auftritt in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ erhielt der britische Schauspieler Eddie Redmayne alias Stephen Hawking in diesem Frühjahr einen Oscar. Seine Darstellung des an ALS erkrankten Wissenschaftlers ist zweifellos eine Sternstunde des Kinos. Aber so außergewöhnlich seine Leistung auch war, sie ist nicht die einzige dieses Kalibers. Denn der Pole Dawid Ogrodnik, der die Hauptrolle in „In meinem Kopf ein Universum“ übernahm, hätte dafür mindestens die gleiche Anerkennung verdient.

Er spielt den jungen Mann Mateus, der seit seiner Kindheit an einer zerebralen Bewegungsstörung leidet und nicht im Stande ist, seinen Körper zu kontrollieren. Um sich fortzubewegen, robbt er meist auf dem Rücken den Boden entlang, die Greiffunktion seiner Hände funktioniert nur sehr eingeschränkt, Kommunikation über Sprache gar nicht. Er wächst im Polen der späten 1980er-Jahre auf und wird, trotz aller Herausforderungen, von seinen fürsorglichen Eltern liebevoll gepflegt und so normal wie möglich behandelt. Nach dem Unfalltod seines Vaters (Arkadiusz Jakubik) und dem Auszug seiner Geschwister kümmert sich seine Mutter (Dorota Kolak) aufopferungsvoll um ihn, muss jedoch nach einem Sturz einsehen, dass sie Mateus nicht mehr allein betreuen kann. Er kommt in ein Heim für geistig behinderte Menschen – obwohl er genau das nicht ist. Denn hinter seinem steifen Körper wacht ein lebendiger Geist, der seine Umwelt mit allen Facetten wahrnimmt – und nur darauf wartet, dies der Welt auch irgendwann zu zeigen.

Ähnlich wie Julian Schnabels „Schmetterling und Taucherglocke“ (2007) erzählt Regisseur Maciej Pieprzyca seine Tragikomödie aus dem Blickwinkel des Protagonisten. Zwar nicht in dieser Konsequenz wie Kollege Schnabel (mit einer Kamera, die stets den Blick des Erkrankten wiederspiegelt), dafür aber mit einem sarkastischen Off-Monolog, der das Geschehen ohne falsche Scham kommentiert. So weiß das Publikum von Beginn, was Mateus’ Umfeld erst sehr spät bewusst wird: dass er trotz seiner eingeschränkten motorischen Fähigkeiten ein intelligenter junger Mann ist, der zumindest geistig aktiv am Leben teilnimmt. Mit einer angemessenen Mischung aus Tragik und Humor folgt der Film Mateus’ Odyssee zum erwachsenen Mann und seinen Erlebnissen mit anderen Menschen, zu denen unter anderem zwei Frauen gehören, die in verschiedenen Phasen seines Lebens sein Herz erobern.

Berührt die wahre Geschichte des lebensfrohen Mateus schon sehr, so bleibt vor allem die herausragende Performance des Hauptdarstellers im Gedächtnis. Es ist mir persönlich ein Rätsel, wie es Dawid Ogrodnik gelang, derart präzise und perfekt diese schwierige Rolle (rein physisch betrachtet) zu spielen. Nicht nur, aber vor allem dafür lohnt es sich, „In meinem Kopf ein Universum“ zu sehen.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in deutsch synchronisierter und polnischer Originalsprachfassung sowie optionale deutsche Untertitel. Als Bonusmaterial gibt es lediglich ein paar Trailer. „In meinem Kopf ein Universum“ erscheint bei MFA+ Film im Vertrieb von Ascot Elite und ist seit 8. September 2015 erhältlich. (Packshot: © MFA+ FilmDistribution e.K.)

Heimkino-Tipp: „Die Gärtnerin von Versailles“ (2014)

A Little Chaos

Eines der vielen zauberhaften Dinge, die das Kino seinem Publikum ermöglicht, ist die ‚Flucht‘ in völlig andere Welten. Sei es eine Reise auf fremde Planeten, in die Zukunft oder zurück in die Vergangenheit. Aber nicht nur das: Wer Filme inszeniert, darf sich auch erlauben, reale Geschichte zu verändern, um daraus fantasievolle neue Handlungen zu kreieren. Mr. Tarantino gelang dies beispielsweise mit Bravour in „Inglourious Basterds“. Einer völlig anderen Epoche, aber ebenso gelungen, widmet sich Schauspieler und Teilzeit-Regisseur Alan Rickman in seinem Werk „Die Gärtnerin von Versailles“.

Ja, Puristen mögen bereits an dieser Stelle anmerken, dass eine Frau und das historische Versailles nicht zusammengehen. Denn wie sollte eine Dame am Hofe des Königs die Möglichkeit erhalten, den Schlossgarten in Eigenregie zu entwerfen? In Rickmans leichtfüßigem Historienfilm, angesiedelt im Frankreich des 17. Jahrhunderts, ist dies jedoch möglich: Die verwitwete Landschaftsgärtnerin Sabine De Barra (Kate Winslet) erhält die Chance, dem angesehenen Gartenarchitekten André Le Nôtre (Matthias Schoenaerts) beim Bau eines Barockgartens zu assistieren. Der Auftraggeber, kein Geringerer als der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. (Alan Rickman) persönlich, hat dabei ziemlich genaue Vorstellungen vom Endprodukt: etwas nie Dagewesenes soll entstehen – wenn nicht, sind Konsequenzen für seinen Untertan André unvermeidlich. So machen sich Sabine und André allen gesellschaftlichen und physikalischen Widerständen zum Trotz ans Werk, müssen fiese Intrigen und zerstörerische Gewitterstürme über sich und ihren Garten ergehen lassen und finden, vergraben unter dicken (Schutz-)Schichten aus Schlamm und Schweigen, schließlich den Weg ins Herz des Anderen.

Es mag melodramatisch und handlungsarm klingen – „Die Gärtnerin von Versailles“ ist all dies jedoch nicht. Mit Verve, ungeheurer Spielfreude und wunderbar anzusehenden Sets macht Rickman, der auch am Drehbuch mitwirkte, daraus einen fluffig schönen, kurzweiligen und romantischen Film, der unter seinen herrlichen Kostümen eine moderne Story trägt. An der Oberfläche ein durchaus von Sarkasmus durchzogenes Sittengemälde, erzählt der Streifen vom Aufbegehren gegen Stur- und Borniertheit, überkommene gesellschaftliche Zwänge und Vorurteile. Oder, etwas Abstrakter, von der Schwierigkeit, eigene Pläne und Vorhaben trotz etlicher Rückschläge in die Realität umzusetzen. Einen Filmdreh zum Beispiel. Dabei gelingt es Rickman, nicht nur Sabine, sondern ebenso den anderen Hauptcharakteren Tiefe und Widersprüchlichkeit zu geben, was vor allem der Figur des Sonnenkönigs zugute kommt.

Überhaupt ist „Die Gärtnerin von Versailles“ ein Fest für Fans großartiger Schauspielkunst. Während Rickman und Stanley Tucci, der den Bruder Ludwigs spielt, die Gesten und Eigenheiten ihrer Herrscherfiguren wunderbar theatralisch wiedergeben, wirkt Schoenaerts’ André wie ein Tiger im Käfig, der mit aller Kraft versucht, seine Gefühle hinter einer steifen Fassade zu verbergen. Sabine ist sein Gegenstück, die Winslet mit kleinen Gesten und viel Herzenswärme zum Leben erweckt.

Ein Film mit Seele, dem man die Liebe seiner Macher (vor und hinter der Kamera) für ihren Beruf ansieht.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung sowie deutsche Untertitel. Als Extras befinden sich gelöschte Szenen, Interviews sowie ein kurzer Making of-Clip auf den Discs. Darüberhinaus Impressionen von der Deutschlandpremiere und eine Vorstellung von Ulrike Stürzbecher, der deutschen Stimme von Kate Winslet. Trailer, eine Bildergalerie und unkommentierte Aufnahmen vom Dreh runden das üppige Paket ab. „Die Gärtnerin von Versailles“ erscheint bei Tobis Home Entertainment im Vertrieb von Universal Pictures Germany und ist seit 3. September 2015 erhältlich. (Packshot + stills: © Tobis)

Heimkino-Tipp: „Like Father, Like Son“ (2013)

No Son of Mine

„Du kommst ganz nach deinem Vater!“ oder „Sie hat den Willen ihrer Mutter.“ Mit Sätzen wie diesen sind sicherlich viele schon einmal konfrontiert worden, sei es persönlich oder während einer Plauderei mit anderen wenn es darum geht, Ähnlichkeiten eines Kindes seinen Eltern zuzuschreiben. Harmloser Smalltalk, der jedoch ein sehr viel essenzielleres Thema anspricht – die Frage, was einen Menschen prägt: Ist es seine Herkunft oder die Erziehung? Die Gene oder sein Umfeld? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, nichtsdestotrotz sind Eltern, oder zumindest die Erziehungsberechtigten, im Kindesalter stets die wichtigsten Bezugspersonen. Was aber, wenn diese plötzlich durch neue ersetzt werden, weil die eigenen Eltern ein anderes Kind nun als das ihre bezeichnen?

Die wohlhabenden Ryota Nonomiya (Masharu Fukuyama) und seine Frau Midori (Machiko Ono) leben zusammen mit ihrem sechsjährigen Sohn Keita (Keita Ninomiya) ein unaufgeregtes Leben, das auf den ersten Blick nahezu perfekt wirkt. Wären da nur nicht die zahlreichen Überstunden im Büro, die es Ryota nahezu unmöglich machen, Zeit mit seiner Familie zu verbringen. So sind die wenigen Momente mit seinem Kind meist geprägt von kurzen Begegnungen am Esstisch oder am Klavier, das der Kleine ganz im Sinne seines Vaters zu spielen lernt. Eines Tages bricht diese ohnehin fragile Idylle auseinander: Ryota und Midori erfahren, dass Keita nicht ihr leiblicher Sohn ist. Kurz nach seiner Geburt kam es im Krankenhaus offenbar zu einer folgenschweren Verwechslung. Ihr „echter“ Sohn wuchs in der Familie des Kleinwarenhändlers Yudai (Rirî Furankî) auf, heißt Ryusei (Hwang Sho-gen) und hat mehrere Geschwister.

Nach dem ersten Schock entscheiden sich beide Eltern zur Kontaktaufnahme. Treffen werden vereinbart, und so lernen sich die gut situierten Nonomiyas und die aus einfachen Verhältnissen stammenden Saikis näher kennen, können „ihre“ unbekannten Kids im Alltag beobachten und lassen sie sogar hin und wieder beim jeweils Anderen übernachten. Aber wie lange kann das so weitergehen? Bald steht die Frage im Raum, ob ein Rücktausch sinnvoll und moralisch angemessen wäre. Während Midori und die Saikis noch hadern, kontaktiert Ryota heimlich einen Anwalt, der ihm helfen soll, das Sorgerecht für beide Kinder zu erhalten.

Der japanische Regisseur und Autor Kore-Eda Hirokazu („Nobody Knows“) nähert sich in seinem Cannes-gekrönten Familiendrama auf sensible Weise einer ungemein komplexen Situation, die gewiss kein Vater und keine Mutter erleben will. Mit der Entscheidung, die Eltern erst im sechsten Lebensjahr ihrer Söhne mit diesem Problem zu konfrontieren, macht er es auch seinem Publikum schwer, eine schnelle und befriedigende Lösung zu finden. Keita und Ryusei sind bereits fester Bestandteil ihrer Familien und ihrer Umgebung, besitzen Charakter und sind clever genug, die Handlungen der Erwachsenen zu hinterfragen.

Interessant ist der angenehm zurückhaltend inszenierte Film vor allem auch deshalb, da schon zu Beginn sehr schnell klar wird, dass Ryota und Keita nicht das engste Verhältnis zueinander haben. Der Junior leidet unter der Kälte und Abwesenheit seines „Vaters“, der hingegen hätte gern einen selbstsicher und egoistisch auftretenden kleinen Alleskönner Zuhause. Auf der anderen Seite ist Yudai ein Kind im Manne, der jede freie Minute mit seinen Steppkes verbringt und die Arbeit dafür gern schon mal schleifen lässt. Ein einfaches Gemüt, ja, aber ein lebensfroher und herzlicher Kerl, der jeder Herausforderung mit einem Lächeln begegnet.

Das jedoch keine voreiligen Schlüsse gezogen werden: „Like Father, Like Son“ ist mehr als „böser Papa“ gegen „guter Papa“. Es ist ein Film über Familienbande(n), den Wert elterlicher Liebe, über verschiedene Lebenseinstellungen und Werte, große Erwartungen und (falsche?) Hoffnungen. Kurz: ein meisterhaftes Werk, das seinem anspruchsvollen Thema in jeder Szene gerecht wird.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in deutsch synchronisierter und in japanischer Originalfassung sowie optionale deutsche Untertitel. Als Bonus sind Trailer beigefügt. „Like Father, Like Son“ erscheint bei filmkinotext/good!movies/SchwarzWeiss Filmverleih und ist seit 4. September 2015 erhältlich. (Packshot + stills: filmkinotext)

... im Nachgang: „Mission: Impossible - Rogue Nation“ (Kinostart: 6. August 2015)

Während die britische Doppel-Null noch den Anzug für die Premiere im November bügelt, präsentiert Kollege Ethan Hunt schon mal sein fünftes Abenteuer. Was ich davon halte, findet sich HIER (vom mir stammt das erste „Pro“).

(Plakat: © 2015 Paramount Pictures Germany GmbH)