Heimkino-Tipp: „Simpel“ (2017)

Das Leben ist nichts für Feiglinge

Ein wunderbares Wortspiel: „Simpel“ ist nicht nur der Titel des Films, sondern auch eine weder sarkastisch noch böse gemeinte Bezeichnung für das Gemüt des 22-jährigen Barnabas, der geistig zurückgeblieben ist. Ebenso ist ‚Simpel‘ sein Ruf- und Spitzname. Er und sein älterer Bruder Ben stehen Mittelpunkt einer herzerwärmenden Geschichte, die sich leichtfüßig Themen wie Verantwortung, familiäre Bande und Pflichten sowie tiefer (Geschwister-)Liebe widmet.

Simpel (David Kross) und Ben (Frederick Lau) werden vom Tod ihrer Mutter eiskalt erwischt. Obwohl er sich zuvor schon aufopferungsvoll um seinen behinderten Bruder gekümmert hat, weiß Ben, dass es nun noch etwas schwieriger wird. Zumal er pflegebedingt nur hin und wieder einer Arbeit nachgehen kann und ihr Vater, der sich schon vor vielen Jahren abgesetzt hat, nun entscheidet, Simpel in eine Betreuungseinrichtung einzuweisen. Zähneknirschend akzeptiert Ben die Anordnung – nur um im entscheidenden Moment einzugreifen: Er kapert den Polizeiwagen, der Simpel zum Heim bringen sollte, entledigt sich der übrigen Fahrgäste und düst los. Sein Ziel: Hamburg, wo er Papa davon überzeugen will, dass er, Ben, allein die beste Hilfe für Simpel ist.

Es ist stets eine Gratwanderung, geistig beeinträchtige Charaktere in eine Komödie einzubinden, ohne sich auf ihre Kosten lustig zu machen. Regisseur Markus Goller („Friendship“, „Frau Ella“) inszeniert sein Roadmovie daher eher als Tragikomödie und verzichtet erfreulicherweise auf ausgelutschte Gags, die immer wieder gerne aufgewärmt werden, wenn ein geistig Zurückgebliebener auf die „normale Welt“ trifft. Vielmehr ist der Film an der innigen Beziehung zwischen den Brüdern interessiert, die eben nicht nur eine einseitige Abhängigkeit darstellt. Denn für Ben ist Simpel Lebensinhalt, tägliche Aufgabe, Freudenspender und Abenteuerkumpel zugleich. Als Ben aufgrund diverser Umstände diese Verantwortung unbeabsichtigt entgleitet, wird auch ihm klar, dass er nicht alles allein schaffen kann.

Großen Anteil an dieser spannenden charakterlichen Entwicklung haben drei Figuren, denen Simpel und Ben auf ihrem Trip Richtung Norden begegnen: die Medizinstudenten Aria (Emilia Schüle) und Enzo (Axel Stein, der ohne Blödeln gleich viel überzeugender wirkt) sowie Vater David (Devid Striesow). Besonders seine Rolle ist sehr differenziert angelegt, da er zwar oberflächlich ein egoistisches A-loch ist, aber eben auch auf Bens Wohlergehen bedacht ist. Striesow ist mit dieser Performance einmal mehr ein absoluter Genuss.

Das größte Lob aber gebührt den beiden Hauptdarstellern David Kross und Frederick Lau. Ihr fabelhaftes, unkompliziertes und vor allem bis in die kleinste Nuance professionelles Schauspiel macht diesen Film zu etwas Besonderem – eine Wohlfühlmischung aus Freude, Drama, Anspruch und Spaß.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in original deutscher Sprachfassung sowie als Hörfilmfassung. Untertitel für Hörgeschädigte sind ebenso vorhanden (sehr löblich!). Als Extras gibt es Interviews und Trailer. „Simpel“ erscheint bei Universum Film und ist seit 20. April 2018 erhältlich. (Packshot + Filmstills: © Universum)

Heimkino-Tipp: „Hands of Stone“ (2016)

Raging Bull

Der aus Panama stammende Roberto Durán gilt als einer der besten Boxer aller Zeiten. Seine Karriere ist eine bemerkenswerte Ansammlung von sportlichen Höhen und Tiefen und daher prädestiniert für eine filmische Aufarbeitung. Jonathan Jakubowicz, ein Regisseur und Drehbuchautor venezuelischer Abstammung, hat sich dieser Aufgabe mit „Hands of Stone“ nun angenommen.

Sein Film widmet sich besonders jener Zeit, in der Durán, dargestellt von Edgar Ramirez, von Trainerlegende Ray Arcel (Robert De Niro) gecoacht wurde. Der arbeitete im Laufe seiner langen Trainertätigkeit mit 20(!) Boxweltmeistern zusammen. Zweifellos eine interessante Kombination, die der hektisch inszenierte Film jedoch nie ganz zu fassen kriegt. Ein Grund dafür mag sein, dass die zwei Stunden Laufzeit vollgepackt sind mit Episoden aus Duráns Leben, die für sich allein schon allesamt erzählenswert sind, hier aber ohne einen geeigneten dramaturgischen Rahmen aneinandergereiht werden. So gibt es hier ein wenig Kindheit, dort etwas Romantisches, zwischendrin familiäres (Un-)Glück und hin und wieder einen Boxkampf. Das ist in der Tat alles mit Können auf die Leinwand gemalt, wirkt in großen Teilen jedoch lediglich wie eine im Überschwang zusammengestellte Power-Point-Präsentation, die unbedingt vermeiden will, auch nur eine Sekunde zu langweilen.

So wird die Bedeutung einzelner Ringduelle für Duráns Karriere und Leben nie wirklich deutlich. Das schmerzt besonders bei seinen Fights gegen Sugar Ray Leonard (gespielt vom Musiker Usher), die noch heute zu den außergewöhnlichsten des Boxsports zählen. Sie ragen im Film weder dramaturgisch noch optisch wirklich heraus. Zumindest ist Regisseur Jakubowicz in diesem Punkt konsequent: Ebenso oberflächlich wie die Handlung präsentiert er die Matches – schnell geschnitten, zeitlich sehr gerafft und fast ausnahmslos in unmittelbarer Nähe seiner Schauspieler gefilmt, sodass beim Zuschauen ein Blick aufs ‚große Ganze‘ verwehrt bleibt.

Dafür kann „Hands of Stone“ an anderer Stelle überzeugen: In der Hauptrolle liefert Alleskönner Ramirez („Che“, „Carlos“, „Point Break“) eine Glanzleistung ab und beweist erneut seine beeindruckende Vielseitigkeit, während Kollege Usher als sein wichtigster Opponent angenehm zurückhaltend agiert und wider Erwarten keine Fehlbesetzung ist. Mit der Verpflichtung von Robert De Niro aber ist Jakubowicz ein absolutes Meisterstück gelungen. Nicht unbedingt wegen dessen Performance – De Niro spielt Rollen wie diese aus dem Effeff –, sondern weil seine Mitwirkung unweigerlich Erinnerungen an seine Oscar-prämierte Rolle in „Wie ein wilder Stier“ (1980) weckt, die Filmgeschichte geschrieben hat. Mag es „Hands of Stone“ im direkten Vergleich zu diesem cineastischen Meisterwerk an Raffinesse und Tiefgang fehlen, als unterhaltsamer und kurzweiliger Boxerfilm überzeugt er allemal.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung sowie deutsche Untertitel. Als Extras gibt es ein informatives Making of (seltsamerweise bezeichnet als „Interviews“), gelöschte Szenen sowie Trailer. „Hands of Stone“ erscheint bei Elite Film AG (Ascot Elite Entertainment) und ist seit 20. April 2018 erhältlich. (Packshot + Filmstills: © Ascot Elite)

Heimkino-Tipp: „Gun Shy“ (2017)

Despershito

Oha! Meine verehrten LeserInnen, das nun rezensierte Werk könnte eines Tages als Klassiker gelten. Nicht im Sinne eines „Big Lebowski“ oder „Fear and Loathing in Las Vegas“, sondern eher als Geschwisterchen von (unbeabsichtigten) Trashgranaten wie „Showgirls“ und „The Room“. Filme also, die auf ihrem Weg zum Kunstwerk eine oder mehrere falsche Abzweigungen genommen haben und in ihrer Endfassung derart sonderbar anmuten, dass sie nur mit gequältem Grinsen und Kopfschütteln durchzustehen sind. Der Gewinner des Monats April: „Gun Shy“.

Die Idee zu dieser an sich witzigen Geschichte hatte das Autorengespann Toby Davies und Mark Haskell Smith. Ihr Ansinnen: Einen einstigen Rockstar, der sich in seinem selbstgewählten Ruhestand hauptsächlich von Bier und dem Ruhm vergangener Tage ernährt, in ein turbulentes Abenteuer zu verwickeln, das auf witzige Weise sowohl den Narzissmus einiger Musiker als auch Agentenfilme persifliert. Mit Antonio Banderas und Olga Kurylenko in den Hauptrollen sowie Simon West („Tomb Raider“, „The Expendables 2“) als Regisseur durchaus prominent besetzt, hätte das Experiment eigentlich funktionieren können. Eigentlich.

Turk Henry (Banderas) genießt das entspannte Leben eines Bad Boys a.D. und würde sein schniekes Anwesen am liebsten nie verlassen. Seine hübsche Gattin, das ehemalige Supermodel Sheila (Kurylenko), hat jedoch anderes im Sinn und schleppt ihn zum Erlebnisurlaub in ein Hotel nach Chile. Während er dort am Pool rumgammelt und nur über das Wort Bier Freundschaft mit einem einheimischen Jungen schließt, unternimmt Sheila eine Tour ins Umland – und wird prompt entführt. Als den Kidnappern klar wird, wessen Frau sie da in ihrer Hütte gefangen halten, fordern sie eine Million Dollar Lösegeld. Das könnte Turk im Nu zahlen, wäre da nicht ein überambitionierter amerikanischer Agent namens Harding (Mark Valley), der dies untersagt. So muss Turk sich etwas anderes einfallen lassen, um seine große Liebe lebendig wiederzubekommen.

Dass Antonio Banderas ein fabelhafter Schauspieler ist, hat er schon lange vor seinen Sprung nach Hollywood in mehreren Filmen von Pedro Almodóvar bewiesen. Was er auch gut kann, ist overacting. Das passt per se wunderbar zu diesem an vielen Stellen ganz offensichtlich überzeichneten Skript. Nur zünden wollen die Gags irgendwie nicht. Kurylenko kann sich noch am besten verkaufen, übertreibt es aber an manchen Stellen ebenso. Den Vogel schießt jedoch Mark Valley ab, dessen Performance jeden Comedy-Auftritt von Nicolas Cage in den Schatten stellt. Leider befürchte ich, das war nicht Valleys Absicht.

Hier zeigt sich, wie unbrauchbar Regisseur West als Darsteller-Dirigent ist. Statt seine Helfer vor der Kamera zu zügeln, lässt er sie vollkommen von der Leine und verwechselt Amüsement mit Hampelei. Wenn er dann auch noch einen seiner besten Gags aus „Con Air“ quasi mit Ansage zitiert (oder besser: ideenlos nachstellt), ist’s mit dem Wohlwollen zumindest bei mir vorbei.

Seicht, zahnlos und in nur ganz wenigen Momenten witzig: „Gun Shy“ könnte glatt als TV-Movie durchgehen, das alle Beteiligten aus Spaß an der Freude nebenbei abgedreht haben. Gibt’s jede Woche zuhauf auch im deutschen Fernsehen zu bestaunen/zu erleiden. Daher meine Empfehlung für Banderas, Kurylenko, West & Co.: „Gun Shy“ ganz schnell aus euren Lebensläufen entfernen! Sonst findet ihr euch demnächst bei Kalkofes „SchleFaZ“ wieder.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung sowie deutsche Untertitel. Als Extras gibt es Trailer. „Gun Shy“ erscheint bei Elite Film AG (Ascot Elite Entertainment) und ist seit 20. April 2018 erhältlich. (Packshot + Filmstills: © Ascot Elite)

Heimkino-Tipp: „Westfront 1918“ (1930) / „Kameradschaft“ (1931)

German Filmkunst

Starten wir mit einer Cineastenfrage: Welche legendären Spielfilme sind untrennbar mit der Thematik Erster Weltkrieg verbunden? „Im Westen nichts Neues“ (1930, Regie: Lewis Milestone) und „Wege zum Ruhm“ (1957, Regie: Stanley Kubrick) sind sicherlich Vielen ein Begriff. Aber neben diesen beiden herausragenden Hollywood-Produktionen gibt es noch ein weiteres Werk, welches wegen seiner drastischen Darstellung der Kriegshandlungen und -folgen vor allem beim zeitgenössischen Publikum für Furore sorgte: „Westfront 1918 – Vier von der Infanterie“.

Regie führte der österreichische Filmemacher Georg Wilhelm Pabst, der zuvor bereits die Schauspielkarrieren von späteren Stars wie Greta Garbo und Leni Riefenstahl (vor ihrer umstrittenen Regisseurslaufbahn) in Gang gebracht hatte und rückblickend als einer der führenden Künstler der „Neuen Sachlichkeit“ im Film gilt. Realismus, eine natürliche Spielweise der Darsteller und echte Sets (oder zumindest echter wirkende Sets) sind Markenzeichen dieser Strömung und in „Westfront 1918“ sowie in größerem Maße auch im ein Jahr später entstandenen „Kameradschaft“ deutlich zu erkennen.

Beide Filme sind in Deutschland nun erstmals auf Blu-ray erhältlich. Qualitativ hervorragend ist dabei nicht nur das Bild und – mit einigen wenigen Abstrichen – der Ton, sondern ebenso das Drumherum: Die sogenannten Mediabooks enthalten die Filme auch als DVD-Version und kommen mit üppigen Booklets daher, die neben interessanten filmhistorischen Informationen etliche Nachdrucke von original Werbematerial sowie Rezensionen enthalten, die parallel zu den Kinopremieren 1930/1931 erschienen. Eine Schatzkiste nicht nur für Cineasten!

„Westfront 1918“, übrigens der erste Tonfilm, den Pabst realisierte, zeigt den Alltag an einem Frontabschnitt irgendwo in Frankreich kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs. Vom Sieg träumt hier keiner mehr, das nackte Überleben ist das einzige Ziel. In endlosen Gräben hocken die Soldaten, über ihnen beständig das Geheul von Granaten und Maschinengewehren. Worum hier eigentlich gekämpft wird, bleibt ungesagt. Ob es für die Beteiligten jemals ein Ende dieser Hölle geben wird, ebenso.

„Kameradschaft“, dessen Titel zunächst einen weiteren Film im militärischen Umfeld vermuten lässt, hat wiederum einen ganz anderen Schauplatz: In einem französischen Bergwerk kommt es zu einem Grubenunglück und 600 Kumpel werden verschüttet. Obwohl aufgrund der einstigen Kriegsfeindschaft noch immer Vorbehalte vorhanden sind, entscheiden sich Bergarbeiter auf der deutschen Seite der naheliegenden Grenze, zum Unglücksort zu fahren und trotz aller (politischer) Hindernisse bei der Bergung ihrer französischen Kollegen mit anzupacken.

Von den vielen künstlerisch bemerkenswerten Aspekten, die beide Werke auszeichnen, sind zwei besonders hervorzuheben: Pabst nutzte die Tonspur, ein Stilmittel, das zur Zeit der Entstehung von „Westfront 1918“ noch etwas Neues war, sogleich optimal: Fast über die gesamte Lauflänge ist Kriegslärm zu hören, ganz so, wie es wahrscheinlich auch die kämpfenden Soldaten an der Front erdulden mussten. Dies verstärkt den zu sehenden Realismus noch zusätzlich und deutet an, wie nervenaufreibend die pausenlose Geräuschkulisse im Schützengraben gewesen sein muss. „Kameradschaft“ hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass der Film zweisprachig gedreht wurde – und Pabst bewusst darauf verzichtete, seinem deutschen bzw. französischen Publikum das Gesprochene im jeweils anderen Land zu übersetzen. Allein die Bilder sollten seiner Meinung nach genügen, um die Geschichte zu transportieren. Ob ihm das gelungen ist, kann der Zuschauer selbst bewerten.

Es wäre schön, wenn diese neue Mediabook-Reihe mit weiteren Filmklassikern fortgesetzt wird. Denn nicht immer ist bei Veröffentlichungen dieser Art die Mühe der Macher so offensichtlich und der Informationsgehalt der Texte/Abbildungen derart groß wie in diesen beiden Fällen.

Die DVDs/Blu-rays bieten die Filme in deutsch bzw. deutsch/französischer Originalsprachfassung sowie optionale Untertitel in englisch/französisch („Westfront 1918“) und deutsch/englisch/französisch („Kameradschaft“). „Westfront 1918 – Vier von der Infanterie“ sowie „Kameradschaft“ erscheinen bei Atlas Film/AL!VE AG und sind seit 13. April 2018 erhältlich. (Packshots: © Atlas Film)

Heimkino-Tipp: „Detroit“ (2017)

Strange Days

Bereits 1995 widmete sich Regisseurin Kathryn Bigelow in dem fiktionalen Thriller „Strange Days“ dem Rassenkonflikt in Amerika und nahm darin sehr deutlich Bezug auf den Fall Rodney King, der Anfang der 1990er-Jahre bei einer Verkehrskontrolle in Los Angeles von mehreren Polizisten krankenhausreif geschlagen wurde. Leider wurde diesem Ausnahmefilm nie die Anerkennung zuteil, die er verdient hätte, da er nicht nur inhaltlich (Drehbuch: James Cameron), sondern auch inszenatorisch außergewöhnlich war. Jahre später adaptierte Bigelow den darin schon angedeuteten Kamerastil für „Tödliches Kommando – The Hurt Locker“ (2008) – und erhielt als erste Frau den Oscar für die „Beste Regie“. Für ihr aktuelles Werk „Detroit“ entschied sich Bigelow nun abermals für eine solche quasi-dokumentarische Form.

Der Film erzählt von den Ereignissen einer Nacht im Jahre 1967, die den traurigen Höhepunkt eines gewaltsamen Aufstands in der einstigen Autostadt darstellt. Dabei starben mehrere Zivilisten durch die Hand von ‚Gesetzeshütern‘, die in einem Motel eine Art Standgericht abhielten und dabei jegliches Maß an Menschlichkeit verloren. Basierend auf Fakten und Erinnerungen von Augenzeugen, ist „Detroit“ einerseits ein beklemmendes Minutenprotokoll einer sich anbahnenden Katastrophe vor 50(!) Jahren, andererseits ein ziemlich deutliches Spiegelbild aktueller Zustände in Amerikas Gesellschaft.

Bigelow und ihr Autor Mark Boal, mit dem sie schon bei „Hurt Locker“ sowie „Zero Dark Thirty“ zusammenarbeitete, wählen einmal mehr einen sehr direkten, unmittelbaren Einstieg und legen den Fokus auf mehrere Personen, die sich im Laufe der Nacht allesamt im „Algiers Motel“ widerfinden werden: Sicherheitsmann Dismukes (John Boyega), Sänger Larry (Algee Smith) und Polizist Krauss (Will Poulter). Es sind keine leicht zu fassenden Charaktere, doch Bigelow/Boal wissen kurze Momente zu nutzen, um den Figuren Tiefe zu geben. So ist der Schwarze Dismukes sich seines Sonderstatus’ bewusst, wird aufgrund seiner Tätigkeit von jenen mit gleicher Hautfarbe provoziert und von Weißen belächelt. Der Weiße Krauss hingegen weiß um die Verantwortung seines Jobs für die Bevölkerung, hat aber gleichzeitig offenbar kein Problem damit, flüchtenden Plünderern ohne Vorwarnung in den Rücken zu schießen. Kleine verbale Sticheleien und Rempeleien hier und da geben zudem einen guten Eindruck vom Umgang der Menschen miteinander zu jener Zeit.

Was „Detroit“ dabei so außergewöhnlich macht: Es ist in keiner Szene auszumachen, ob es sich um einen Spielfilm oder eine Dokumentation handelt, die Live-Material verwendet. Eingefangen von mehreren, gleichzeitig filmenden Kameras, vermittelt der Film eine Dynamik, die schnell vergessen lässt, dass es sich hierbei um nachgespielte Ereignisse handelt. Bigelow verweigert ihrem Publikum einen Rückzugsort, eine Perspektive mit Abstand, einen Blick von außen. Anders formuliert: Wer „Detroit“ anschaut, ist mittendrin – und sollte starke Nerven haben, wenn die Handlung zu den Geschehnissen ins Motel wechselt.

Ich war zunächst skeptisch, als die Besetzung des jungen Briten Will Poulter als Antagonist bekanntgegeben wurde. Er ist zweifellos ein hervorragender Schauspieler, doch keine seiner bisherigen Rollen (z.B. „Son of Rambow“, „Die Chroniken von Narnia 3“, „Wir sind die Millers“) ließen erahnen, welche Intensität er hier an den Tag legen würde. Ein Meisterstück.

Nur eine von vielen bemerkenswerten Leistungen vor und hinter der Kamera in diesem rauen, bedrückenden und sehr direkten Film.

Die DVD/Blu-ray/4K UHD bietet den Film in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung sowie optionale deutsche Untertitel (auch für Hörgeschädigte). Als Extras befinden sich Kurzdokumentationen, ein Musikvideo sowie Trailer auf den Discs. „Detroit“ erscheint bei Concorde Home Entertainment und ist seit 5. April 2018 erhältlich. (Packshot + stills: © Concorde)

... im Nachgang: „The Florida Project“ (Kinostart: 15. März 2018)

„Das ist kein Film, zu dem man ein Contra schreiben kann“ war die einhellige Meinung in der Redaktion des Kinokalender Dresden. Daher nun HIER zwei Lobhudeleien auf das wunderbare »The Florida Project«. Von mir stammt der zweite Teil des Textes.

(Plakat: © 2018 Prokino)

Heimkino-Tipp: „Twin Peaks“ (2017)

A Limited Event Series

In den vergangenen Jahren hat sich, nicht nur dank der Streaming-Dienste Netflix und Amazon Prime, die Serienlandschaft grundlegend verändert. Nie zuvor gab es eine solche Vielfalt und Masse an Produktionen, die Nischen bedienen, Experimente wagen, Neues ausprobieren. Anfang der 1990er-Jahre, als das lineare Fernsehen noch die einzige Plattform für Serienformate darstellte, sah dies völlig anders aus – und macht die Existenz von „Twin Peaks“ daher umso erstaunlicher. Die Serie brach mit bis dato bekannten Erzählmustern, präsentierte skurrile Charaktere en masse und beeinflusste seither unzählige weitere Produktionen. Kurz: „(Das Geheimnis von) Twin Peaks“ ist Kult. Nach zwei Staffeln (1990/1991) war jedoch Schluss, ein nachgereichter Kinofilm unter dem Titel „Fire Walk With Me“ (1992), der die Vorgeschichte der Serie erzählt, konnte an den Erfolg nicht anknüpfen.

Umso größer die Überraschung, als 2014 laut über eine Wiederbelebung nachgedacht wurde. Mit einem mehrdeutigen Tweet bestätigten die beiden Serienerfinder David Lynch und Mark Frost schließlich den Neustart, der inhaltlich an die ersten Staffeln anschließen würde. Ihr Coup: Beinahe alle Darsteller von einst sind wieder mit dabei. Einige kehrten dafür sogar aus ihrem Ruhestand zurück vor die Kamera.

Die Herausforderung: Wie gelingt es, in Zeiten von „Stranger Things“, „Game of Thrones“ und „House of Cards“ noch zu überraschen? Kann das neue „Twin Peaks“ noch einmal so außergewöhnlich sein wie vor rund 25 Jahren? Gelingt es dem Team Lynch/Frost, alte Fans zufriedenzustellen und gleichzeitig neue dazuzugewinnen? Nach vier gesehenen von insgesamt 18 neuen Folgen möchte ich meinen: Mission (bisher) erfolgreich erfüllt!

Natürlich spielt dabei der Nostalgie-Bonus zunächst eine große Rolle. Wenn einzelne bekannte Figuren wie beispielsweise Lucy (Kimmy Roberston) und Andy Brennan (Harry Goaz) die Szenerie betreten und ganz bestimmte Verhaltensmuster an den Tag legen, ist Dauergrinsen angesagt. Im Mittelpunkt steht jedoch abermals Kyle MacLachlans FBI-Agent Dale Cooper, der während Ermittlungen in einem Mordfall einst verschwand und nun völlig überraschend wieder aufgetaucht sein soll. Prompt häufen sich auch wieder mysteriöse Vorkommnisse in der titelgebenden Stadt und stellen die Polizei – ebenso wie die Zuschauer – vor etliche Rätsel.

Denn Lynch/Frost lassen es sich nicht nehmen, gleich zu Beginn ordentlich zu verwirren. Surrealismus in Reinform würde ich es nennen, Lynch unzensiert vielleicht andere. Besonders Episode 3, „Ruf um Hilfe“, ist ein Paradebeispiel dafür, was kreative Freiräume fernab von Erfolgsdruck erschaffen können. Inhaltlich passiert in dieser einen Stunde nicht viel, faszinierend ist es dennoch.

Wohin die Reise in den übrigen, von mir bisher noch nicht gesehenen Folgen der dritten Staffel gehen wird, kann ich nicht ansatzweise voraussagen. Und genau dies ist ein Beweis dafür, dass „Twin Peaks“ auch in der Neuauflage funktioniert. Einzige erforderliche Voraussetzungen beim Zuschauer: Geduld. Und Offenheit für mitunter abstruse Wege, eine Geschichte zu erzählen.

Die DVDs/Blu-rays bieten die dritte Staffel in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung sowie diverse Untertitel. Das Bonusmaterial ist üppig: Dokumentationen, Werbeclips, Fotogalerien und Interviews sind in Fülle vorhanden. Besonderes Schmankerl: „Impressions: A Journey Behind the Scenes of ‚Twin Peaks‘“ mit einer Lauflänge von mehreren Stunden. „Twin Peaks – A Limited Event Series“ erscheint bei Universal Pictures Germany GmbH/Paramount Pictures und ist seit 29. März 2018 erhältlich. (Packshot + stills: © Paramount Pictures/Universal Pictures. Alle Rechte vorbehalten)